SPIELANALYSE – Endlich wagte sich wieder einmal ein Wirtschaftskapitän in die Presse. Sergio Ermotti als CEO der grössten und systemrelevantesten Schweizer Bank wandte sich im Anschluss an die Aufhebung der Euroanbindung des Frankens mit einem Fünf-Punkte-Programm an die Öffentlichkeit. Und er erntete viel Häme.
VR-Praxis 04/2015; TEXT CHRISTOPH HILBER
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Ein Erguss von Kritik über den dreisten Mut, wirtschaftspolitische Thesen und Wünsche aufzustellen, prasselte über Ermotti nieder. Absender der Kritik war primär die Politik. Statt über die Wünsche zu reflektieren, raspelten die Präsidenten vor allem der linken Parteilandschaft ihre Standardparteiprogramme nieder.
POSITIVE EINSICHT
Die Unterstützung der Wirtschaft für die «Fünf-Pfeiler-Strategie» hätte eigentlich zu einem grossen Beifall führen müssen:
MASSENEINWANDERUNG Ausser den Initianten, einer kantonalen Jugendpartei und einem Verband waren alle Vertreter von Politik und Wirtschaft gegen die Initiative. Ich bin überzeugt, dass im Nachhinein die Initianten selber wünschten, die Abstimmung knapp verloren, statt knapp gewonnen zu haben. Eigentlich ist heute niemand mehr gegen Einwanderung.
REGULIERUNG Grösstes Anliegen im Gespräch mit Unternehmern ist die Eindämmung der Regulierungswut. Wir nähern uns dem Regulierungs-Perpetuum mobile, sprich: Die Politik schafft so viele neue Regulierungen, bis die Unternehmer damit nachhaltig voll ausgelastet sind. Warum wehrt man sich nicht mehr?
ERBSCHAFTSTEUER Zugegeben, sich als Banker in dieses Wespennest zu getrauen, braucht tatsächlich Mut. Mit ein bisschen differenzierter Betrachtung dieses Pfeilers spricht der Banker nicht nur für die eigene Branche, sondern auch für das Gros des Wirtschaftsmotors, nämlich die Schweizer Familienunternehmen und damit den darin angestellten Mittelstand. Alle Patrons machen sich darüber grosse Sorgen.
FREIHANDELSABKOMMEN Niemand bestreitet den Nutzen solcher Abkommen für unser isoliertes Alpenland. Über deren genaue Ausgestaltung soll man sich gut schweizerisch streiten – aber nicht bis es zu spät ist. Nichts spricht dagegen, die Politik ist sogar federführend.
TIEFE KOSTEN FÜR UNTERNEHMEN Diametrale Meinungen zwischen Unternehmern und Berufspolitikern liegen in der Natur dieser Sache. Der Aufschrei der Politik über diesen Wunsch ist nachvollziehbar, aber das Schweigen der Unternehmer dazu ist unverständlich.
Als eine Art Fundament der «Fünf-Pfeiler-Strategie» nimmt sich der Wirtschaftskapitän selber in die Bringschuld für die Verteidigung des Wirtschaftsstandortes Schweiz. Das ist doch eine positive Einsicht. Hat im Fünf-Punkte-Programm des Bankers etwas Wesentliches gefehlt? Sicher hätte man weitere fünf Aspekte gefunden, ebenso sicher hätte man die Ermotti-Wünsche auf drei Punkte verdichten können.
WAS IST LOS?
Wo sind die unterstützenden Stimmen geblieben? Ich hätte erwartet, dass die Diskussion über diesen Gastbeitrag einige Zeit gedauert und andere Wirtschaftskapitäne bewogen hätte, auch Stellung zu beziehen. Oder wurden die wenigen Stimmen vom Donner der politischen Gegner einfach überhört? Vielleicht war es einfach der Kapitän des falschen Tankers, der die Botschaft aussandte. Wollten sich die übrigen Wirtschaftskapitäne einfach nicht in den Schatten des Bankenimages stellen? Oder waren sie anderer Meinung? Oder sind sie einfach mit der Situation zufrieden? Kaum zu glauben. Dass dieser Bank-CEO die Botschaft verfasste, darf doch nicht Grund sein, deren Inhalt so unqualifiziert abzuschmettern. Im Gegenteil, die Politik sollte die Stimme der praktizierenden Wirtschaft einfordern.
OPTIONEN?
Die Schweiz ist bisher ein Erfolgsmodell, welches fast nur Gewinner hervorbrachte. Für Verlierer ist es auch komfortabler als in ärmeren Regionen. Dieses Erfolgsrezept gilt es zu schützen: Agilität, Verlässlichkeit, Qualität, Pragmatismus, Innovation, Einsatz, Sparsamkeit, Bescheidenheit, vielleicht auch etwas Frech- und Schlauheit, Macht der Leistung und nicht des Geldes, Rechtstaatlichkeit.
Wieder mehr Mut zur öffentlichen, meinungsbildenden Diskussion. Also konstruktive Konfliktfähigkeit, wo erst zugehört und überlegt wird, bevor man antwortet. Dazu braucht es Pole, Meinungsäusserungen aus Politik und Wirtschaft. Dass sich viele Unternehmer wegen des extremen Druckes aus der Politik zurückziehen und sich auf ihre Firma konzentrieren, ist nachvollziehbar. Aber Zeit sollte bleiben, um mehr authentische Voten aus der Praxis zu formulieren. Die Politik ist wichtig, die Wirtschaft ist wichtiger. Ohne die Wirtschaft bräuchte es nur noch die Arbeitslosenkasse. Im Moment steht es leider 0:1 – für die Politik.
AUTOR
Christoph Hilber ist Betriebswirtschafter und seit sieben Jahren Headhunter mit eigenen Firma: P-Connect Executive Search & Recruiting hat den Fokus auf Industrie (MEM), IT/Telekom und Positionen VR, GL und Spezialisten.